Absturzstelle Ramsen
Halifax II, JD369 DY-A, 102 (Ceylon) Sqn. Royal Air Force
10.08.1943
Am Dienstagabend, den 10. August 1943, flogen in Großbritannien von verschiedenen Flugplätzen im gesamten Königreich hunderte englische Bomber los in Richtung Deutschland. Alle hatten das gleiche Ziel: Nürnberg. Ins-gesamt sollten 653 Flugzeuge an dem Nachtangriff auf Nürnberg teilnehmen. Um 21:25 Uhr starteten auf der RAF-Basis Pocklington im englischen Yorkshire mehrere Bomber vom Typ Handley Page Halifax II, die sich an og. Angriff beteiligen sollten. Sie gehörten zur 102. (Ceylon) Staffel/Squadron der Royal Air Force. Einer dieser Bomber von der Basis Pocklington, eine Halifax II mit der Kennung JD369 und dem Funkrufnamen DY-A, sollte von diesem Einsatz nicht mehr zurückkehren. Die Besatzung bestand aus einer 8-köpfigen, gemischten Commonwealth-Besatzung aus sechs Engländern, einem Kanadier und einem Australier. Sechs Mann sollten den Einsatz nicht überleben.
Die Besatzung setzte sich folgendermaßen zusammen: Pilot des Flugzeugs war der 21-jährige Australier Warrant Officer Guydon Whitfield Ward, RAAF-Royal Australian Air Force (RAAF-Service Nr. 406890). Co-Pilot war der 26-jährige Flying Officer Sidney Richard Vivian, RAF-Royal Air Force (RAF Service Nr. 139657). Flugingenieur war Sgt. John Addley Irving, RAF-Royal Air Force (RAF-Service Nr. 936723). Navigator war Sgt. J.A. McLearnon, RAF-Royal Air Force (RAF-Service Nr. 1138663). Bombenschütze war der 20-jährige Sgt. Ronald Ellis Chapman, RAF-Royal Air Force (RAF-Service Nr. 1238906). Funker/Schütze war Sgt. P. Bostle, RAF-Royal Air Force (RAF-Service Nr. 1331058). Heckschütze war der 20-jährige Flt. Sgt. William Harold Davey, RCAF-Royal Canadian Air Force (RCAF-Service Nr. R/129865). Turmschütze war Flt. Sgt. Raymond George Shaw, RAF-Royal Air Force (RAF-Service Nr. 1576981).
Für die Besatzung von JD369 verlief der Einsatz bis zum Zielgebiet wie geplant. Gegen 00:48 Uhr fielen die ersten Bomben. Für die Bevölkerung von Nürnberg und Umgebung wurde dies eine Nacht voller Schrecken. Für die vorne im Bomberstrom fliegenden Pathfinder, die das Ziel für die nachfolgenden Bomber markieren sollten, war das eigentliche Ziel wolkenbedingt kaum auszumachen. Der Abwurf war deshalb relativ ungenau. Der Stadtteil Wöhrd stand bald in Flammen und wurde fast vollständig zerstört. In der Südstadt traf es die Industrie (Zündapp, Diehl, TeKaDe, Kugelmüller). Fürth, Fischbach und Feucht wurden ebenfalls getroffen. 1732 Häuser wurden komplett zerstört, 1156 Häuser wurden schwer beschädigt, 2386 Häuser wurden leicht beschädigt. 585 Opfer waren zu beklagen. Eine Schreckensnacht. Aber auch die Bomberbesatzungen hatten Verluste. Halifax JD369 war einer davon.
Lt. englischen Unterlagen wurde das brennende Flugzeug von Augenzeugen aus Carlsberg, darunter Frau J. Wagner und ihr Neffe, beobachtet. Kurz darauf sichteten sie einen Fallschirm. Der Fallschirmspringer landete in Carlsberg zwischen Fichteck und Hasental. Er überlebte die Landung aber nicht. Am darauffolgenden Tag wurde er, zusammen mit fünf seiner Kameraden aus dem gleichen Flugzeug, in Ramsen vorübergehend bestattet. Das Flugzeug war am Eiswoog bei Ramsen abgestürzt.
Gerüchte, dass Dorfbewohner von Carlsberg den einen Fallschirmspringer, der zwischen Fichteck und Hasental bei Carlsberg herunterkam, erschossen hätten, konnten nicht bestätigt werden. Die spätere Exhumierung der Leiche wiesen keine Schussverletzungen auf. Nachtjägerpilot Hans-Georg Birkenstock, Nachtjägergeschwader 6, verbuchte den Abschuss von Halifax JD369 für sich. Birkenstock flog eine MeBf110 G-4. Er war in Mainz-Finthen stationiert (er fiel am 19.05.1944 bei St. Vith, Belgien).
Im Nachgang der Ereignisse stellte sich heraus, dass von der Halifax-Besatzung drei Briten, der Kanadier und der australische Pilot beim Absturz getötet worden waren. Der Navigator Sgt. McLearnon und der Funker Sgt. Bostle hatten den Absturz überlebt. Sgt. Bostle gab nach dem Krieg zu Protokoll, dass er bei ca. 3000 Fuß (ca. 900 Mtr.) mit dem Fallschirm absprang. Beide Überlebenden bezeugten, dass der australische Pilot noch an Bord war, als sie absprangen.
In 2020 wurde die IG Heimatforschung Rheinland-Pfalz durch Herrn Schach auf den Absturz aufmerksam gemacht. Herr Schach ist in Ramsen geboren und hat 30 Jahre dort gelebt. Er vermittelte den Kontakt zu zwei Zeitzeugen, die mehr über den Absturz erzählen konnten.
Ein Zeitzeuge war als Kind am Tag nach dem Absturz relativ nah an der Absturzstelle gewesen. Er teilte mit, dass er zwar nicht direkt bis an die Absturzstelle herankam, da alles abgesperrt worden war, aber er hatte einige sehr interessante Details zu berichten. Der Rumpf des Flugzeugs lag, wie Bilder ebenfalls belegen, mitten auf der Straße, zwischen Eiswoog und Ramsen, im Bereich der alten Eisenbahnbrücke. Da der Zeitzeuge wegen der großräumigen Absperrung nicht direkt herankam, lief er außen herum, den Hang hinauf, und traf oben mehrere Fallschirmspringer an, die tot in den Bäumen hingen. Einer von ihnen hatte eine schlimme Kopfverletzung. Die Besatzungsmitglieder sind wohl im letzten Moment, aus zu niedriger Flughöhe, aus dem Flugzeug gesprungen. Der Fallschirm hatte sicherlich keine Höhe mehr, um sich richtig zu entfalten. Außerdem tat die Landung in den Bäumen bei Nacht ihr übriges.
Weiter unten auf der Straße, im Bereich des Wracks, wurde durch den Zeitzeugen einer der Insassen gesichtet, der offensichtlich überlebt hatte. Er hatte keinen Fallschirm (mehr), aber was auffällig war, er hatte keine Stiefel an. Daran konnte der Zeuge sich noch genau erinnern. Dabei kann es sich nur um Navigator Sgt. McLearmon oder Funker/Schütze Sgt. Bostle, einer der zwei Überlebenden des Absturzes, gehandelt haben. Er war wohl in unmittelbarer Nähe des Wracks, in allerletzter Sekunde, abgesprungen. Da er sich weiter unten im Tal befand und nicht oben am Hang wie seine (toten) Kameraden, hatten die wenigen Meter Höhenunterschied wohl den Unterschied zwischen Leben und Tod ausgemacht und sein Fallschirm hat sich deshalb gerade noch rechtzeitig öffnen können.
Die beiden Überlebenden wurden nach dem Verhör im Durchgangslager Dulag Luft Oberursel in das Stammlager der Luftwaffe Stalag Luft III bei Sagan (heute Żagań) in Polen verbracht. Sgt. McLearmon bekam die Lagernummer 1326 und Sgt. Bostle die Nummer 1286. Die sechs nach dem Absturz vorübergehend in Ramsen bestatteten Besatzungsmitglieder wurden nach dem Krieg exhumiert und am 23.04.1948 auf dem Commonwealth Militärfriedhof in Rheinberg bei Duisburg wiederbestattet.
Wir, die IG Heimatforschung Rheinland-Pfalz, werden diesen Absturz weiter verfolgen bzw. bis ins Detail untersuchen. Wir werden neue Hinweise, Befunde sowie Fundstücke sichern und Nachfahren der Besatzung kontaktieren. Erfahrungsgemäß wissen Nachfahren nichts von den Todesumständen ihrer Familienmitglieder. Sie können nun mehr darüber erfahren, wo und wie sich dieses tragische Ereignis genau abgespielt hat und haben auch eine Stelle, wo sie hingehen, ggfs. abschließen können. Außerdem werden wir die fast vergessene Absturzstelle und das Schicksal der Besatzung wieder ins öffentliche Bewußtsein zurückholen und die Schicksale sichtbar machen, bevor diese Geschichte samt einzelnen Details endgültig verloren geht. Noch lebende Zeitzeugen sind uns hier immer eine sehr große Hilfe.
Erik Wieman
Fortsetzung folgt!